Deutschland 1945

Das "tausendjährige" Reich versank in einem Meer aus Blut und Tränen. Als am 8. Mai die Waffen endlich schwiegen, waren mehr als 60 Millionen Menschen tot. Gefallen an der Front, ermordet in Konzentrationslagern, verbrannt in Bombennächten, gestorben an Hunger, Kälte und Gewalt auf der großen Flucht. Als die Welt erfuhr, was in deutschem Namen nicht nur in den Lagern des Regimes geschehen war, kehrte sich der Zorn der Völker gegen Hitlers ganzes Volk.

Karl Heinz Schröder hat diese Zeit als Kind miterlebt. Seine Lebensgeschichte soll an eine Zeit errinnern, in der Frieden, Freiheit und Wohlstand Fremdwörter waren.

Wir sollten niemals vergessen, daß wir die letzten siebzig Jahre das Glück hatten, all dies alles nicht miterleben zu müssen. Weltweit gesehen war (und ist) das beileibe keine Normalität.

Lasst uns gemeinsam auch künftig mit allen Kräften versuchen, Frieden und Freiheit zu erhalten.

Meine Erinnerungen an die Flucht und Vertreibung aus Pommern 1945 -1947

Orginaltext von Karl Heinz Schröder, behutsam überarbeitet von Corbinian Wagenseyl

Teil I

Schon seit Tagen hörte man in der Ferne Kanonendonner. Oder waren es Bombenabwürfe auf Stargard? Hier in Goldbeck konnte man das nicht so genau einordnen. Aber im ganzen Dorf wurde es immer unruhiger. Durchhalteparolen im Radio brachten noch mehr Ungewissheit über die Lage an der Front. Überall wurde für die Flucht gerüstet. Unserem Opa Wiese wurden noch zwei Tagen zuvor seine Pferde beschlagnahmt. Das Militär tauschte einfach zwei total erschöpfte Tiere gegen "Max" und "Moritz" aus. (Beim Opa hießen die Pferde immer "Max" und Moritz". So wurden auch die beiden Armee-Klepper gleich getauft.) Aber gutes Futter, ausreichend Ruhe - und sie würden bald wieder zu Kräften kommen.

Goldbeck war ein beschauliches Bauerndorf. Es gehörte zum Kreis Saatzig. Ein kleiner Fluss, die „Gestohlene Ina", floss quer durch den Ort. In dieser Ina wollten wir Kinder mit Gabeln Fische fangen. Das gelang natürlich nicht. Dafür hatten wir im Winter unser Vergnügen. Regelmäßig waren die Wiesen überschwemmt und zugefroren. Riesige Eisflächen luden zum Schlittern ein. Drähte unter den Holzschuhen waren so gut wie Schlittschuhe.

Jeder kannte hier jeden. Außer den bäulerlichen Anwesen gab es im Dorf auch zwei Gasthöfe. Der eine lag oben im Dorf. (Obwohl hier alles eben war, hatte es sich eingebürgert, dass der Teil nördlich der Kirche "oben" hieß und der andere „unten“.) Der „obere“ Gasthof hatte gleichzeitig einen Lebensmittelladen. Den bewirtschaftete die Soldatenwitwe Herta Jagow. Ihr Mann, Hermann Jagow, war im Dorf der erste Gefallene. In ganz Goldbeck herrschte Trauer. Später musste der Ortsbauernführer Herbert Lenz noch öfter schmerzliche Mitteilungen in die Häuser tragen.

Der zweite Gasthof - „unten“ im Dorf - war gleichzeitig die Poststelle. Die Post wurde aber nicht mehr ausgetragen, sondern man fragte nach. So trafen sich hier immer Dorfbewohner und tauschten Neuigkeiten aus. Eine Stellmacherei war auch für uns Kinder sehr wichtig. War mal am Schlitten eine Kufe oder eine Latte entzwei, wurde uns vom alten Stelling schnell geholfen. Ob das sein richtiger Name war, wussten wir nicht. Vielleicht hatte man ihn von seinem Beruf abgeleitet. Und beim Schmied schauten wir gern dem Beschlagen der Pferde zu. Der Geruch, der aufstieg, wenn die glühenden Eisen an die Hufe angepasst wurden, den hatte man noch lange in der Nase. Der Schmied hieß Suckow. Den Namen gab es mehrmals. Zur Unterscheidung war immer ein Zusatz nötig. Da gab es den Bergsuckow oder den Mühlensuckow. Wilhelm Suckow gab es gleich dreimal: Wilhelm S. I, Wilhelm S. II, Wilhelm S. III.

In Goldbeck wurde es immer unruhiger. Militärfahrzeuge fuhren durch. Teilweise ganze Kolonnen. Für uns Kinder sehr interessant. Der Ortsbauernführer erteilte jeden Tag neue Anweisungen. Mal sollten alle Bewohner das Dorf verlassen, dann wieder nur die Frauen mit Kindern. Vorsorglich wurde vieles vergraben. Unsere Mutter hatte für uns, meine Schwester Gisela (11), meinen Bruder Horst (5) und für mich, Karl Heinz (8), aus Handtüchern Rucksäcke genäht. Die konnten später wieder aufgetrennt werden. Bettdecken waren zusammengerollt und mit Schlaufen versehen. Alles mögliche wurde für die Flucht vorbereitet.

Und dann war es so weit. Der Aufruf kam: Alle Frauen mit Kindern sollten das Dorf verlassen. Transporte wurden organisiert. Überwiegend mit Pferd und Wagen. In Goldbeck hatte zu der Zeit nur der Viehhändler Daberkow ein Auto mit Anhänger. Bei uns wurden noch die Hühner in Freiheit gelassen, die Haferkiste zur Selbstbedienung geöffnet. Und dann stiegen wir beim Opa auf den Wagen, der schon mit Planen versehen worden war. Im leichten Trab ging es zum Dorf hinaus. An unserer Schule vorbei. Ein letzter Blick auf die Kirche, in der wir alle getauft worden waren. Dahinter der Friedhof, auf dem Vater immer die Hecken ganz akkurat geschnitten hatte. Was wird aus unserem Goldbeck? Wird es ein Wiedersehen geben?

Kaum waren wir auf der Landstraße, war Horst schon eingeschlafen. Auf einem Pferdewagen schlief er besser als im Bett. Das kannten wir von früher, wenn wir mit dem Opa auf den Acker fuhren. Denn Mutter half oft bei der Feldarbeit. Und wir Kinder waren dann immer dabei. Nach etwa zwei Stunden gelangten wir an unseren Bestimmungsort. Die Einteilung der Quartiere war gut vorbereitet. Jeder bekam eine Familie genannt, bei der er sich melden sollte. Wir kamen zu der Familie Tretow. Ein hübsches Haus. Frau Tretow mit zwei Kindern stellte uns ein großes Zimmer zur Verfügung. Es war wohl ihr Wohnzimmer. Irgend einen Schrank gab es allerdings nicht. Ein Tisch, vier Stühle und drei Matratzen waren im Zimmer verteilt. Frau Tretow kochte für uns mit. Wir fühlten uns gut aufgehoben. Keiner wußte, wie lange wir bleiben sollten. Von einem Eisenbahntransport war die Rede.
Zwei Tage harrten wir schon aus, als die Nachricht verbreitet wurde, daß uns am nächsten Morgen ein Zug gen Westen bringen würde. Im Nachbarhaus war Frau Zillmer mit den beiden Kindern Egon (12) und Erika (10) untergebracht. Auch Zillmers kamen aus Goldbeck. Gemeinsam wollten wir morgen früh zum Bahnhof.

Als wir zur verabredeten Zeit aus unserem Zimmer kamen, war Familie Tretow nicht mehr da. Ein kleiner schriftlicher Hinweis für uns besagte, sie seien schon auf der Flucht. Wir sollten uns bedienen mit dem, was noch da war, das Haus abschließen und den Schlüssel wegwerfen. Sie kämen nicht wieder zurück.

Auf der Straße war lebhafter Verkehr. Wir packten alles schnell zusammen. Noch ein paar Scheiben Brot und dann nichts wie ab. Auf dem Hof stand eine Schubkarre. Unser Gepäck wurde darauf verladen. Gerade rechtzeitig kam auch Frau Zillmer mit Rucksäcken und Taschen. Doch alles fand darauf keinen Platz. Egon musste zurückbleiben und das Gepäck bewachen, während wir mit der ersten Fuhre Richtung Bahnhof schoben. Dort angekommen, wollte Frau Zillmer mit der Karre zurücklaufen und die restlichen Sachen holen.

In scharfem Tempo überholten uns immer wieder deutsche Militärfahrzeuge, voll beladen mit Soldaten - man könnte sagen „überladen“. Sie wollten uns immer etwas mitteilen, aber bei dem Lärm und der Geschwindigkeit konnten wir nichts verstehen. Jedenfalls bedeuteten ihre Gesten, daß wir in Deckung gehen sollten. Wir hatten große Mühe, die andere Straßenseite zu erreichen. Von dort war der Bahnhof schon in Sichtweite. Es hatten sich bereits zahlreiche Flüchtlinge eingefunden, die alle auf den Zug warteten, der uns weiter in den Westen bringen sollte.

Kaum waren die Militärfahrzeuge durch, da hörten wir Schüsse aus ratternden Maschinengewehren. Dann auch Kanonendonner. Der war noch nicht verhallt, da tauchten Panzer auf. Kettengerassel und harte Kommandos schallten herüber: Russen!! Das war allen sofort klar. Frauen und Kinder stürzten sich in den Straßengraben. Das Gepäck polterte hinterher. Über uns wurden immer wieder Gewehrsalven abgefeuert. Wir Kinder wurden ständig aufgefordert, den Kopf unten zu lassen. Nicht nur wir weinten bitterlich. Auch die Erwachsenen konnten ihr Entsetzen kaum unterdrücken. Das Inferno steigerte sich. Offensichtlich wurde wahllos geschossen. Auch die Panzer feuerten ohne Pause. Ob sie Ziele anvisierten oder einfach in die Häuser schossen - wer weiß.

Plötzlich ein furchtbares Geschrei am Bahnhof. Dort war eine Artillerie-Granate eingeschlagen. Und gleich liefen alle um ihr Leben. Inzwischen tauchten auch russische Soldaten auf. Ihre Zerstörungswut konnte man nun erleben. Die Gepäckstücke dienten als Zielscheibe. Und mit Bajonetten wurden die Reste noch aufgeschlitzt. Wir lagen im Graben, völlig apathisch, zitterten vor Kälte (April 1945) und besonders vor Angst. Sicher hat manch einer sich in dieser aussichtlosen Situation den Tod gewünscht. Frau Zillmer war furchtbar aufgeregt. War doch Egon noch im Quartier. Hoffentlich hatte er diesen Angriff unbeschadet überstanden. Wie sollte sie ihren Jungen nachholen? Im Graben schlich sie immer weiter zurück. Erika blieb bei uns. Hoffentlich würden wir uns alle wiederfinden! Vereinzelt standen Leute auf und liefen davon. Doch im selben Moment krachten Schüsse über unsere Köpfe, und schon lagen alle erneut flach im Graben.

Wie lange wir unter Beschuss waren, konnte man nicht beurteilen. Aber sobald es etwas ruhiger wurde, rafften sich immer mehr Leute auf und rannten los. In alle Richtungen flüchteten die Menschen. "Nur nicht zum Bahnhof, dort sind die Russen und plündern!" wurde uns zugerufen. Wir kannten uns in der Gegend nicht aus, mussten aber trotzdem fort. Nur: Wohin?

Unsere Mutter hatte sich wieder gefasst und nahm die Rucksäcke auf. Jeder bekam sein Gepäck, und wir liefen aufs Geratewohl aus dem Ort. Erika Zillmer war bei uns. Sie weinte ununterbrochen, rief nach ihrer Mama. Vor uns sahen wir noch zwei Familien, die gezielt auf einem Feldweg ein Gehöft ansteuerten. Wir hatten sie bald eingeholt, denn eine ältere Frau konnte nicht so schnell laufen. So erfuhren wir, dass sie zu einem Aussiedlerhof wollten und nichts dagegen hatten, wenn wir uns anschlössen.
Langsam näherten wir uns dem Hof. Keine Menschenseele war zu sehen. Scheinbar war auch diese Bauernfamilie auf der Flucht. Die Hühner flatterten aufgeregt, als wir ankamen. Beim Betreten des Hauses konnten wir erkennen, dass der Bauer erst vor wenigen Stunden geflohen war, denn im Küchenofen fand sich noch heiße Asche. Zunächst wurden alle Zimmer in Augenschein genommen. Die Schränke standen überwiegend offen. Sicher hatte man hier in aller Eile zusammengepackt, was man auf die Flucht mitnehmen konnte. Auch in der Speisekammer waren Lücken zu bemerken. Aber es gab immer noch genügend Lebensmittel wie Einweggläser, Pökelfleisch und allerlei mehr. So konnte der erste Hunger gestillt werden.
Nach einigen Stunden fanden sich weitere Flüchtlinge ein. Und im Laufe des Tages immer mehr. Nun wurde es langsam eng. Aber alle waren froh, dass sie sich von den Panzern und furchterregenden russischen Truppen hatten absetzen können.
Da tauchten plötzlich zwei deutsche Soldaten auf. Ihre Waffen hatten sie weggeworfen Sie waren genauso durcheinander wie wir.
Wer weiß, was sie in den letzten Stunden alles erlebt hatten. Kämpfen wollten sie nicht mehr. Sie hatten nur noch einen Gedanken: Zivilkleidung, damit sie nicht als Landser erkannt wurden!
Sie fürchteten um ihr Leben, denn die Russen, so sagten sie, würden alle deutschen Soldaten erschießen. Zum Glück wurden im Haus Jacken, Hosen und auch Mäntel gefunden. Die Männer waren sehr erleichtert, sobald sie nun als Zivilisten erschienen. Jetzt mussten aber die verräterischen Uniformen verschwinden: Eingraben oder verbrennen? Rasch wurde Stroh zusammengetragen, angezündet – und alles ging in Flammen auf.
 
Für die Nacht wurden die Stuben aufgeteilt. Wo keine Matratzen mehr waren, wurde Stroh als Lagerstätte aufgeschichtet. Es wurde noch lange erzählt. Alle hatten in den letzten 24 Stunden viel durchgemacht und von Grausamkeiten gehört oder sie gar miterlebt. "Unsere" Erika hatte sich mit meiner Schwester Gisela angefreundet. Wir alle nahmen sie mal in den Arm, um sie zu trösten. Wo mochten ihre Mutter und ihr Bruder sein?

Die Nacht verlief ruhig auf dem Hof. Nur in der Ferne waren immer wieder Kanonenschüsse und Gewehrfeuer zu hören. Gegen Morgen brüllten plötzlich Kühe. Mutter, die sich in der Landwirtschaft auskannte, ging mit zwei weiteren Frauen in den Stall und wußte sofort, dass die fünf Kühe dringend gemolken werden mussten. So gab es am Morgen kuhwarme Milch für alle. Nun galt es auch, alle Tiere zu versorgen. Heu, Stroh, Runkeln waren reichlich vorhanden. Auch die Hühner bekamen ihr Korn. Dafür entlohnten sie uns mit Eiern. Der Bauer war offensichtlich mit Pferd und Wagen geflohen, denn der Pferdestall war leer. Auch der übliche Hofhund fehlte, der sicher seinem Herrn nicht von der Seite wich. Keiner hatte eine Vorstellung, wie es weitergehen sollte. Die Flucht fortsetzen - aber wohin?

Woher die Parole kam, dass wir uns tagsüber in dem nahegelegenen Wald verstecken sollten, wusste keiner. Wir sollten Gräben ausheben, in denen wir bei einem Gegenangriff unserer Truppen in Deckung gehen konnten. Gutgläubig, wie nun einmal Mütter mit Kindern, Omas und Opas sind, zogen wir in den Wald. Mit Spaten und Schaufel versuchten wir vergeblich, einen Graben zu buddeln. Gegen Abend kehrten wir unverrichteter Dinge zurück auf "unseren" Hof.

Inzwischen war ein gewisser Rhythmus entstanden. Die Tiere wurden versorgt, Essen zubereitet. Aber die Gedanken an die Zukunft fanden kein Ziel. Ein paar Tage ging es mittags in den Wald und abends zurück. Man beschloss, dass es so nicht weitergehen könne. Am nächsten Tag würde niemand den Hof verlassen. Auf dem Rückweg aus dem Wald mussten wir immer über eine kleine Brücke. Es war ein Provisorium aus einfachen Brettern über einem kleinen Wasserlauf. Unser Horst war etwas unvorsichtig, ging am äußersten Rand, rutschte ab und landete im Graben. Pitschnass zappelte er sich wieder heraus. Jetzt aber schnell zum Hof! In der Küche das Feuer anheizen. Die Sachen mussten schnell getrocknet werden, denn Kleidung zum Wechseln hatten wir nicht. Horst überstand sein unfreiwilliges Bad aber gut, und wir waren froh, dass er sich keine Erkältung zugezogen hatte.


Teil II

Ein paar "friedliche" Tage waren vergangen. Inzwischen sangen uns die Vögel in den Frühling, Eichhörnchen huschten von Baum zu Baum. Warum musste es auf der Welt immer wieder Krieg geben mit all seinen grausamen Folgen? Doch plötzlich kamen Motorengeräusche näher. Es war ein russisches Militärfahrzeug. Zwei Soldaten stiegen aus. An den Pluderhosen und schlecht sitzenden Jacken war zu erkennen: Keine Offiziere, sondern nur einfache Dienstgrade. Gestenreich befahlen sie uns, ins Haus gehen. Alle in ein Zimmer! Eingeschüchtert, völlig verängstigt folgten wir den Handzeichen. Zumal ihre Maschinenpistolen uns gewaltigen Respekt einflößten. Laut und unmissverständlich forderten sie "Uri". Doch wir hatten keine Uhren. Im Zimmer hing eine an der Wand, aber die ging schon lange nicht mehr. Von einem Opa - alle sprachen ihn mit „Opa“ an - wussten wir, dass er eine Taschenuhr besaß, denn heimlich schaute er immer mal auf das gute Stück. Die Russen wurden immer ungeduldiger und immer lauter. Da dieser Raum für zwei Familien die Schlafstelle war, lagerte dort auch aufgehäuftes Stroh. Plötzlich stieß ein Russe mit seinem Bajonett dort hinein. Er dachte sicher, es verberge sich jemand darunter. Wir zitterten am ganzen Leibe. Die Kinder fingen an zu weinen. Im stillen hofften sicher alle, vielleicht würde der Opa ja seine Uhr herausrücken, und die Russen verschwänden. Voller Zorn riss ein „Iwan“ seine Mpi hoch und schoss eine ganze Salve in die Decke. Der gewaltige Knall in dem kleinen Raum und der Staub von der Decke, der das ganze Zimmer einhüllte, versetzten uns in einen solchen Schock, dass wir vollkommen still wurden. Ich selbst hielt mich jedenfalls für tot. Ich sah nichts, ich hörte nichts. Wie lange dieser Zustand anhielt, weiß ich nicht.

Schließlich zogen die Rotarmisten ab. Nach und nach gelangten wir wieder zur Besinnung. Aber an diesen Schrecken würden wir noch lange denken. Besonders, wenn wir Russen zu Gesicht bekamen. Die Furcht saß tief.

Besonders die Frauen waren voller Angst. Durch dunkle Kopftücher und mit Asche getuschten Augen versuchten sie, möglichst alt auszusehen. Und doch passierte es. Nach ein paar Tagen kamen erneut Soldaten vorgefahren. Wieder mussten wir alle in einen Raum. Gleich hatten sie ihr Opfer ausersehen: Else! Wie die mit Nachnamen hieß, wussten wir nicht. Sie war mit ihrer Mutter allein bei uns. Oft machte sie einen transusigen Eindruck. Viel gesprochen hat sie nie. Ihr Alter war schwer abzuschätzen. Vielleicht 30 oder schon 40 ? Else musste mit den zwei Russen mit. Sie packten die arme Frau, und obwohl die laut heulte und mit den Beinen strampelte, ließen die Männer nicht von ihr ab. Ihre Mutter wurde heftig zurückgestoßen, als sie der Tochter helfen wollte. Wir anderen saßen angstbebend zusammen und hielten uns aneinander fest. Keiner traute sich aus dem Raum. Schließlich Motorengeräusch. Die Russen fuhren weg. Unsere Starre löste sich. Elses Mutter lief durchs ganze Haus. Sie fand ihre Tochter völlig aufgelöst, ganz apathisch, total verweint. Die Bedauernswerte war vergewaltigt worden und wollte sich überhaupt nicht beruhigen. Uns tat sie sehr leid, wenn auch wir Kinder über das Geschehene keine richtige Vorstellung hatten.

Am nächsten Morgen versetzte uns ein herzzerreißender Schrei in helle Aufregung. Elses Mutter kam über den Hof gelaufen, hielt sich die Hände vors Gesicht und schrie "Hilfe, Hilfe, Hilfe". Gleich waren mehrere Erwachsene bei ihr. Auch wir Kinder stürzten hinaus. "Else, Else" hörten wir immer wieder. Dann kam es heraus: Else war tot. Sie lag mit durchgeschnittenen Pulsadern in der Scheune. Die Kinder durften nicht hinein. Später bekamen wir sie dann doch zu Gesicht, als man sie in einem Raum aufbahrte. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich einen toten Menschen. Alle fragten sich, woher sie wohl die Rasierklingen hatte. Womöglich hatte sie sich schon länger mit dem Gedanken an Freitod befasst? Nun tauchte gleich ein neues Problem auf: Wo sollte man sie beisetzen? Ins Dorf wollte keiner. So wurde hinterm Haus ein Grab ausgehoben und Else dort zur ewigen Ruhe gebettet. Ein kleines Holzkreuz wurde gezimmert und aufgestellt – das war alles.
 
Es vergingen ruhige Tage, vielleicht sogar Wochen. Wir Kinder kannten nur Tag und Nacht. Zum großen Glück brauchten wir nicht zu hungern. Auf dem Hofe fanden sich Vorräte von der letzten Ernte, und die Tiere gaben uns täglich Frisches. Zudem verstanden die Frauen es, aus allem etwas Essbares und Schmackhaftes zuzubereiten.

Die Rotarmisten, die zwischendurch immer einmal erschienen, machten uns zwar Angst, aber gottlob blieben sie friedlich. Wir waren noch immer mehrere Familien auf dem Hof. Längst hätten auf den Feldern Kartoffeln gelegt, Roggen ausgesät, Rüben gepflanzt werden müssen. Aber alles blieb brach. Wobei die Wintersaat gut aufgegangen war. Bestimmt schrieben wir schon Mitte Mai oder Anfang Juni. Inzwischen war es auch deutlich wärmer, und wir Kinder hielten uns oft im Freien auf. Doch es schien, als ob wir das Lachen und Späßemachen verlernt hätten. Denn eine lustige Schar waren wir nicht.


Eines Tages näherte sich wieder ein Russenauto. Schon flüchteten wir alle ins Haus - wie die Hühner vor dem Habicht am Himmel . Der Uniform nach war der Russe ein Offizier. Mit ihm stieg ein Mann in Zivilkleidung aus. Nach einem kurzen Rundgang kamen sie ins Haus. Der Zivilist war ein Pole und konnte die russischen Anweisungen übersetzen. Dieser Mann würde als Bauer den Hof übernehmen. Eine einzige Familie dürfe bleiben. Alle anderen sollten sich auf den Weg machen und zum Gutshof verfügen. Es seien etwa zehn Kilometer. Dort gäbe es Arbeit und Lohn. Man erklärte uns den Weg. Wer geht? Wer bleibt? Der Pole entschied sich schnell für eine Familie: Mutter, Großvater und zwei Jungs von etwa zwölf Jahren. Er sah sie sicher als brauchbare Arbeitskräfte an.

So mussten wir wiederum unser Bündel packen. Am nächsten Tag ging der "Treck" los. Und immer diese Ungewissheit über die Zukunft. Alles war so trostlos. Nur die Natur zeigte sich von ihrer schönsten Seite. Allein schon durch die leuchtendgelben Kuhblumen wurde die Stimmung etwas aufgehellt.

Der Weg war wohl doch weiter als gedacht. So legten wir eine Rast ein und kamen mit den anderen ins Gespräch. Eine Frau kannte offensichtlich den Gutshof und den Besitzer. Es sei der "Borstelhof". Gustav Freiherr von Borstel, ein älterer Herr, seine Frau und eine ledige Tochter würden den Hof leiten. Nun waren wir gespannt, was uns erwartete, wie man uns aufnähme, oder ob wir gleich abgewiesen würden. Von einem „Freiherrn“ hatten wir Kinder noch nie gehört. Vielleicht war das ein kleiner König? Nun - wir sollten es bald erfahren.

Das Gut konnte man schon aus der Ferne sehen. Zwischen hohen Bäumen ragte ein imposantes Gebäude heraus. Im Hintergrund standen noch weitere Häuser, deutlich kleiner, fast wie Baracken. Der Hauptweg führte über einen Kiesstreifen direkt auf eine breite Eingangstreppe zu. Ob wir angekündigt waren, oder man uns schon von weitem kommen sah, wer weiß. Freiherr, Freifrau und Freifräulein (ca. 40 Jahre alt) standen auf der Treppe und hießen uns freundlich willkommen. Da waren wir sehr erleichtert.

Bald tauchte ein ehemaliger polnischer Zwangsarbeiter auf. Während seine Schicksalsgenossen den Hof alle verlassen hatten, war er seinem Herrn noch treu ergeben. Dieser Pole kannte sich gut aus und dirigierte uns zu den freigewordenen Unterkünften. Wir bekamen in einer Baracke zwei Räume zugewiesen. Es waren eine große Wohnküche und ein Schlafraum – genug Platz für uns vier. Bevor wir uns richtig umsehen konnten, geschah ein großes Wunder: Plötzlich stand Erikas Mutter, Erna Zillmer, mit ihrem Sohn Egon vor uns. Wie war es möglich, dass man in diesem Wirrwarr, bei dieser Völkerwanderung sich wiederfinden konnte? Natürlich flossen reichlich Tränen der Freude und der Erleichterung. Nun hatte Erika ihre Mama und ihren Bruder wieder, und unsere Mutter trug eine Verantwortung weniger. War es Zufall oder Gottes Fügung, dass Erna Zillmer sich einer Gruppe angeschlossen hatte, die ebenfalls dieses Gut als Zuflucht wählte?

Frau Zillmer hauste schon ein paar Tage hier auf dem Gut. Sie konnte kurz schildern, wie der Tagesablauf war. Wir richteten uns in den beiden Räumen so gut es ging ein. Für Mutter war zunächst die Küche interessant. Musste sie sich doch um das Essen kümmern. Ein großer Herd war vorhanden, und auf den Regalen standen allerhand Küchengeräte. Nur Essbares fand sich nicht. Da konnten wir gleich von Frau Zillmers Erfahrungen profitieren. Es wurde also „organisiert“. Wobei wir Kinder schnell dabei waren, zu holen, was es zu holen gab.

Am nächsten Tag verteilte man Aufgaben: Kühe melken, Schweine füttern, Schafe hüten, Ställe ausmisten. Es gab zu tun. Als Lohn wurden uns Naturalien - ein gewisses Deputat - zugesagt. So gab es Milch, Mehl, Eier usw.. Selbst ich bekam einen Anteil, da ich mit noch zwei weiteren Jungs zum Schafehüten eingeteilt war. Freifrau von Borstel - sie wurde immer mit „gnädige Frau“ angesprochen - hatte die Kinder zu einem Essen in ihrer Küche eingeladen. Ein riesiger Raum mit einem riesigen Tisch. Dort konnten sicher 20 Personen Platz finden. Küchenmädchen füllten die Teller für uns und stellten Getränke hin. Ein strenger Blick der Chefin verhinderte, dass jemand zu essen begann, bevor alle ihren Teller vor sich hatten. "Nun esst und trinkt und seht euch satt" war ihr Kommando. Es war eine frohe Runde. Auch Nachschlag bekam man - aber aufessen hieß es. Na - damit hatte ja niemand ein Problem, und geschmeckt hat uns damals sowieso alles.

Leider dauerten diese Annehmlichkeiten nicht lange. Eines Tages kamen Russen und Polen vorgefahren. Dem Gutsbesitzer wurde erklärt, dass er den Hof verlassen müsse. Die Polen würden alles übernehmen. Für den Freiherrn brach eine Welt zusammen. Hatte er seinen Hof doch bisher mit Unterstützung aller möglicher Arbeitskräfte trotz vieler Wirrungen ordentlich geführt. Immer in der Hoffnung, dass schon alles wieder besser werden würde. Nun aber sollte er das Gut verlassen - sein Lebenswerk! Am nächsten Morgen machte sich die Familie mit einem Handwagen voll Gepäck auf den Weg. Ein ganz trauriger Anblick. Die Tochter spannte sich vor den Karren, und die Eltern gingen hinterher. Einigen Mitarbeitern wurden die Augen feucht, denn die Scheidenden hatten es mit „ihren“ Leuten immer gut gemeint. Da zogen sie nun hin: Das Freifräulein, die Freifrau und zum Schluß der Freiherr - in auffallend gebückter Haltung.

Das Gutshaus lag verlassen. Wir sahen uns die Räume näher an: Alles war hochherrschaftlich eingerichtet. Große Gemälde an den Wänden. Im Schlafzimmer ein Bild schwebender Engel auf einer Wolke. Überall Teppiche, auch auf den Treppen. Hier hingen mehrere Portraits von älteren Herren mit grauen Bärten. Eine Bibliothek mit zahllosen Büchern. Doch ich konnte noch nicht lesen. In einem Raum - vielleicht dem Salon – hing in goldenem Rahmen das Bild eines großen Hirschen. Man meinte, sein Röhren zu vernehmen. Dies alles war sehr beeindruckend und musste nun zurückbleiben. Wer weiß, was die Polen damit anstellen würden...

Zunächst ging es wie gewohnt weiter. Alle kannten ja ihre Arbeit, und die verrichteten sie sorgfältig, denn niemand wollte bei dem neuen Herren negativ auffallen. Anweisungen wurden zunächst keine erteilt. Der Sommer war nun schon fortgeschritten, und da musste die Ernte organisiert werden. Vier Gespanne (acht Pferde) standen zur Verfügung. Eine Mähmaschine kam zum Einsatz, und die Frauen banden den ganzen Tag Garben und stellten sie im 12er-Stück auf, je 6 gegen 6. Feldarbeit gab es immer reichlich.. Nach und nach kamen auch polnische Familien dazu - ebenfalls Flüchtlinge. Genau genommen waren es Vertriebene aus Ostpolen, wo sie von den Russen ausquartiert worden waren und also ebenfalls ihre Heimat verloren hatten. Aber immerhin konnten sie sich hier nun neu einrichten und hatten eine gewisse Zukunft, ein neues Zuhause. Unser Schicksal hingegen blieb weiterhin völlig ungewiss.

 Der neue Gutsherr war übrigens ohne Anhang. Aus dem wurde man nicht so richtig schlau. Er gab sich sehr reserviert. Mit den Neuankömmlingen kamen wir dagegen langsam in Kontakt. Auch sie wurden als Arbeitskräfte eingesetzt. Die Unterhaltung war zwar schwer, aber mit Händen und Füßen konnte man sich verständigen. Dabei blieben immer wieder einige polnische Begriffe hängen. Besonders wir Kinder plapperten die fremden Wörter nach: rkozumie (verstehen), jesci (Essen), pic (trinken), szybko (schnell), chleb (Brot), mleko (Milch), jesc´ (Eier), barolz dobize (sehr gut), kolega (Freund), mama (Mutter). Schimpfwörter allerdings zielten eindeutig unter die Gürtellinie und durften nicht übersetzt werden.
Wie in allen Dörfern, so war auch hier mit Sicherheit vor der Flucht einiges vergraben worden. Also wurde an verdächtigen Stellen gebuddelt und tatsächlich oft auch etwas gefunden. Hier eine Kiste mit wertvollem Porzellan, dort Bettwäsche. Auch eine Wanduhr kam zum Vorschein. Überraschungen blieben dabei nicht aus. Man stieß mit dem Spaten auf einen harten Gegenstand, die Spannung stieg. Umso größer dann die Enttäuschung: Ein Hundeskelett! Wer weiß, wie lange die kleine Seele hier schon geruht hatte...


Teil III

Eines Tages kam eine polnische Familie mit Pferd und Wagen vorgefahren. Diese Familie - Mann, Frau, ein Sohn etwa zehn Jahre alt - übernahm die Gutsverwaltung. Gespannt beobachteten wir ihren Einzug in das Herrenhaus. Auf Neuigkeiten warteten alle begierig. Eine solche liess nicht lange auf sich warten: Neben dem Deputat bekamen jetzt alle Beschäftigten einen richtigen Lohn. Die Währung war Zloty. Nur gab es auf dem Hof nichts dafür zu kaufen.

Die Ernte war eingefahren. Heu bis unters Dach gestaut. Für uns Kinder ein idealer Spielplatz. Man konnte sich verstecken, Höhlen bauen und von hoch oben herunterrutschen. Auch mußte das Getreide gedroschen werden. Ein schwerer Lanz-Bulldog lief den ganzen Tag. Die Dreschmaschine war über einen Transmissionsriemen mit ihm verbunden. Der Riemen war in Längsrichtung einmal um sich selbst verdreht. Dadurch wurde verhindert, dass er von der Antriebswelle ablief. Das Korn wurde überwiegend in Säcke gefüllt und für den Verkauf vorbereitet. Fremde Fahrzeuge transportierten es ab. Auch etliche sowjetische Militärlaster waren dabei.

Inzwischen hatten wir die große Angst vor den Russen verloren. Ganz ohne Scheu beobachteten wir, wie sie ein Schwein schlachteten. Das heißt, es wurde erschossen. Der harter Knall erschreckte uns schon gehörig, und alte Erinnerungen kamen zurück. Bei uns wurden die toten Schweine in einem Trog heiß gebrüht und die Borsten abgeschabt. Die Russen hatten ihre eigene Methode. Sie entfachten ein Strohfeuer und sengten die Borsten ab. Danach wurde es ausgenommen und zerteilt. Dabei fiel auch für uns etwas ab. Eine wichtige Rolle spielte für sie der Schnaps. Woher die Gerätschaften zum Brennen kamen, wussten wir nicht. Sicher hatten die Polen geholfen. Neugierig schauten wir Kinder zu. Aus einer langen Kühlschlange tröpfelte eine klare Flüssigkeit. Die Russen probierten und fanden das Ergebnis "otschen charascho"(sehr gut). Aus Porzellantassen bekamen auch wir einen großen Schluck. Obwohl es in der Kehle brannte: Nichts wie runter damit! Die Wirkung war überwältigend. Nach kurzer Zeit torkelten wir nach Hause. Mutter erkannte gleich, dass wir einen gehörigen Schwips hatten. Sie steckte uns ins Bett, damit wir den Rausch ausschlafen sollten.

Es war mittlerweile eine tägliche Fahrt zur Molkerei organisiert worden. Dort konnte man auch mit Zloty einkaufen. Der Fahrer bekam immer Wünsche aufgetragen. Aber meistens konnte er die Waren nicht besorgen. Nur manchmal kam er zurück und hatte tatsächlich etwas ergattert. Seine "Kunden" waren dann besonders dankbar und glücklich.

Zu meinem Geburtstag am 10. November lag schon Schnee. Das war für Pommern nicht ungewöhnlich. Wie von Zauberhand hatte Mutter einen Kuchen gebacken - ein tolles Erlebnis. Wo sie die Zutaten aufgetrieben hatte, war uns ein Rätsel und blieb ihr Geheimnis.

Weihnachten rückte näher, und immer noch hatte keiner eine Vorstellung, wie die Zukunft aussehen würde. Festlichkeiten fanden auf dem Hof nicht statt. Da musste jede Familie für sich etwas vorbereiten und gestalten. Geschenke gab es nicht. Eine Kerze brannte, und wir sangen die üblichen Weihnachtslieder. Für unsere Mutter war es besonders bedrückend, dass wir nun schon ein ganzes Jahr keinen Schulunterricht hatten. Eine Schule wurde auch im neuen Jahr (1946) nicht eingerichtet. Den polnischen Kindern erging es nicht besser. Nur herumtollen und keine Schulpflichten – das war unser Alltag.

Das Jahr nahm seinen Lauf mit allen Arbeiten, die in einem landwirtschaftlichen Großbetrieb anfallen. Wo auf einmal ein 28er Herrenfahrrad herkam, wussten wir nicht, aber für uns wurde das ein ideales Spielzeug. Die Bereifung war zwar total verschlissen; dennoch versuchten wir, damit zu fahren, was gar nicht so einfach war. Über die Längsstange kamen wir mit unseren kurzen Beinen nicht, so musste das rechte Bein unter die Stange zu den Pedalen. In dieser Schräglage galt es, die Balance zu halten. Es waren viele Versuche nötig, ehe man wirklich in Fahrt kam. Immer ohne Luft in den Reifen - aber mit viel Spaß.

Im Mai 1947 wurde es plötzlich unruhig. Mehrere Autos fuhren auf den Hof. Russen und Polen besprachen irgend eine Besonderheit. Einige Zeit später wurden wir eingeweiht: Alle Deutschen hatten das Land zu verlassen. Und zwar schon am nächsten Tag. Wohin wir sollten, konnten auch sie uns allerdings nicht sagen.
Unser Flüchtlingsgepäck wurde wieder zurechtgemacht. Am nächsten Morgen warteten mehrere Fuhrwerke auf uns. Wenigstens mussten wir nicht zu Fuß los, sondern konnten fahren. Es waren mehrere Familien, die sich von den Polen mit beklommenem Herzen verabschiedeten. Schliesslich erfuhren wir auch unser Ziel. Wir kamen in eine Kaserne in Stargard. So, wie die Familien ankamen, wurden sie in Kasernenstuben eingewiesen. Kaum hatten wir uns niedergelassen, mussten wir raus auf den Kasernenhof zum "Zählappell".

Diese Prozedur wurde mehrmals durchgeführt, auch an den kommenden Tagen. Offensichtlich wollte man sich einen genauen Überblick verschaffen und Zuordnungen treffen. Herzzerreißende Szenen spielten sich ab, wenn Familien wegen der Gruppeneinteilung getrennt wurden. Wir konnten immer zusammen bleiben.

Wie viele Tage wir in der Kaserne zubrachten, weiß ich nicht mehr. Aber dann hieß es: Alle raus und ab zum Bahnhof! Vor dem Kasernentor hatten sich mehrere Polenkinder mit Handwagen eingefunden. Sie boten ihre Transporthilfen an. Wir hatten Glück. Mutter packte unsere bescheidene Habe auf einen Wagen und drückte den beiden Jungen ein paar Zloty in die Hand. Nun begann eine flotte Fahrt. Wir hatten Mühe, mitzuhalten und argwöhnten manchmal, dass die Bübchen mit unserem Gepäck durchbrennen wollten. Wir ließen uns aber nicht abschütteln und kamen auf diese Weise schnell und leicht zum Bahnhof.

Güterwaggons standen bereit. Einteilungen wurden getroffen, und Waggon um Waggon füllte sich. Jede Familie versuchte, zusammenzubleiben. Zwischen 15 und 20 Personen belegten nun einen Wagen. Auf dem Bahnsteig herrschte völlige Unordnung. Immer wieder wurden Anweisungen in Polnisch oder Russisch gerufen. Zwar verstanden wir nichts, aber die Gesten trieben immer zur Eile an. Trotzdem stand der Zug anschließend noch stundenlang auf dem Bahnhof. Gut, dass Mutter genügend Essen eingepackt hatte, denn eine Versorgung fand nicht statt. Noch immer konnte keiner in Erfahrung bringen, wo die Reise hingehen sollte. Alle hofften auf eine Fahrt in Richtung Westen. Und tatsächlich: Es ging Richtung Stettin. Aber der Zug hielt oft an. Nach unserer Meinung völlig grundlos. Aussteigen wurde nicht erlaubt. Ein großes Problem war die Notdurft. So musste es sehr schnell geschehen, bei jedem Halt zwischen den Gleisen. Eine sehr peinliche Angelegenheit. Ansonsten blieb nur der Eimer im Waggon... Wir Kinder hatten uns nicht immer unter Kontrolle. Die Reise wollte und wolle kein Ende nehmen. Auf den Bahnhöfen standen bewaffnete Russen. Ob sie uns bewachen oder beschützen sollten, war nicht zu erkennen.

Und dann kam ein Grenzübergang. Der Zug hielt. Personal wurde ausgetauscht. Man sprach Deutsch. Es gab auch eine Verkaufsbude. Unsere Mutter hatte noch immer Reichsmark bei sich. Milch, Brot, Süßigkeiten wurden angeboten. Selbst die Zlotys konnten ausgegeben werden. Nach einer größeren Pause ging die Fahrt weiter. Und zwar jetzt ohne Unterbrechung bis nach Dresden. Würde das etwa unsere neue Heimat werden?

Zunächst zogen wir alle durch die Stadt in ein Auffanglager, das wie für Gefangene errichtet schien. Eingezäunt mit Stacheldraht, gut gesichert. Es war eine Quarantäne. Untersuchungen, Entlausungen sollten durchgeführt werden. So wurde geimpft, gepudert und so weiter. Im Lager konnte man sich frei bewegen. Wir Kinder hatten schnell Schlupflöcher unter dem Stacheldraht entdeckt. Aber in der "Freiheit" fanden wir nichts Verwertbares. Für Verpflegung allerdings war gesorgt. Hungern mussten wir nicht. Selbst der Postverkehr funktionierte.

Mit unserem Vater hatten wir seit Jahren keinen Kontakt mehr gehabt. Mutter hoffte, dass eine Tante Erna in Berlin noch unter der alten Adresse erreichbar sei. Und tatsächlich! Die Post kam an, und ein paar Tage später hatten wir schon Antwort. Das Unfassbare: Auch Vater hatte auf gut Glück die Verbindung zu seiner Schwester in Berlin gesucht. So erfuhren wir seine Anschrift. Er war nach der englischen Gefangenschaft in Schöningen in der britischen Zone gelandet. Sofort nahmen wir Briefkontakt auf, trafen Absprachen.
Nun sahen wir auch viel zuversichtlicher nach vorn. Es sollte doch möglich sein, dass wir bald wieder vereint sein würden!

Nach und nach wurden Familien in andere Orte innerhalb der sowjetischen Zone überwiesen. Auch wir bekamen einen Bescheid, wir sollten "umziehen". Aber Vater hatte sich angemeldet. Er würde uns abholen. Er kam und nahm uns alle in die Arme. Tränen flossen in Strömen. Horst und ich, wir konnten uns nicht an sein Gesicht erinnern. Vor uns stand ein völlig Fremder. Aber Gisela erkannte ihn gleich, und so waren wir sicher, dass es wirklich unser Vater war.

Am nächsten Tag ging es ab. Vater hatte seinen Plan. Mit dem Zug nach Magdeburg, umsteigen , weiter nach Eilsleben, Völpke, Hötensleben. Hier war die Grenze zwischen der sowjetischen und der britischen Zone. Sie musste „schwarz“ überschritten werden, also auf Schleichwegen. Außer uns fanden sich noch mehrere Personen auf diesem Weg. Ganze Gruppen wollten „nach drüben“ Unterwegs fragten wir immer wieder: "Wo ist denn nun der Westen?". Denn wir Kinder hatten keine Vorstellung von unserem Ziel.

Zunächst ging es auch zügig voran. Da Vater einen größeren Teil unseres Gepäcks trug, war es für uns nicht so schwer, das Tempo mitzuhalten. Aber plötzlich lautes Rufen: "Stoi, Stoi!!". Russen tauchten auf.

Alles war bisher so reibungslos gelaufen - und jetzt wieder die „Iwans“! Eine Gruppe vor uns wurde aufgefordert, ihr Gepäck zu öffnen. Die Soldaten durchsuchten alles. Diese Gelegenheit nutzten wir: Schnell vom Weg abbiegen und eine neue Richtung einschlagen! Weg waren wir. Über Hötensleben ging es also nicht. Unser neues Ziel hieß nun Offleben. Wir erreichten es unbehelligt. Und damit standen wir im Westen. Welche Erleichterung! Glücklich lagen wir uns in den Armen.

Mit dem Zug sollte es nun nach Schöningen gehen. Das lag ja bereits in der Nähe. Der Eisenbahner hatte keine Fahrkarten für Erwachsene. Die Lösung: Für jedes Kind eine Kinderkarte und für die Erwachsenen je zwei. Was es in dieser Zeit alles gab! In Schöningen hatten wir es nicht mehr weit bis zu den Ton- und Hohlsteinwerken. In dieser Fabrik arbeitete unser Vater. Arbeiter-Unterkünfte waren vorhanden. Wir zogen in eine Baracke. Die Anschrift war „Lange Trift 19“ - unser künftiges Zuhause. Ein neuer Lebensabschnitt konnte beginnen. Rückblickend stellten wir fest, dass wir riesiges Glück mit unserer Gesundheit gehabt hatten. Keiner war in den letzten Jahren ernsthaft krank geworden.

Nach und nach wurden wir heimisch. Es war Sommer 1947. Wie es mit uns weiterging, ist ein Kapitel für sich. Einige Stichworte, die zeigen, dass wir uns mühselig durchschlagen mussten - aber mit frohem Herzen, denn es ging ja vorwärts: Schule nachholen, Bekleidung beschaffen, Ähren sammeln, Kartoffeln stoppeln, Kaninchen, Enten, Hühner, Schweine halten. Es war alles nicht so einfach. Aber jeder packte mit an. Unsere Eltern waren sehr fleißig. Wir Kinder waren mächtig stolz auf sie. Überall haben sie uns geholfen und unterstützt, so dass wir uns entwickeln und auf unser späteres Leben gut vorbereiten konnten.


"Der 8. Mai ist für uns vor allem ein Tag der Erinnerung an das, was Menschen erleiden mussten. Er ist zugleich ein Tag des Nachdenkens über den Gang unserer Geschichte. Je ehrlicher wir ihn begehen, desto freier sind wir, uns seinen Folgen verantwortlich zu stellen.
Der 8. Mai ist für uns Deutsche kein Tag zum Feiern. Die Menschen, die ihn bewusst erlebt haben, denken an ganz persönliche und damit ganz unterschiedliche Erfahrungen zurück. Der eine kehrte heim, der andere wurde heimatlos. Dieser wurde befreit, für jenen begann die Gefangenschaft. Viele waren einfach nur dafür dankbar, dass Bombennächte und Angst vorüber und sie mit dem Leben davongekommen waren. Andere empfanden Schmerz über die vollständige Niederlage des eigenen Vaterlandes. Verbittert standen Deutsche vor zerrissenen Illusionen, dankbar waren andere Deutsche für den geschenkten neuen Anfang...
Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Niemand wird um dieser Befreiung willen vergessen, welche schweren Leiden für viele Menschen mit dem 8. Mai erst begannen und danach folgten. Aber wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte.
Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.
Wir haben wahrlich keinen Grund, uns am heutigen Tag an Siegesfesten zu beteiligen. Aber wir haben allen Grund, den 8. Mai 1945 als das Ende eines Irrweges deutscher Geschichte zu erkennen, das den Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg."

(Richard von Weizsäcker, Rede zum 8.Mai)