Mal ganz im Vertrauen...

Entbehrliche Gedanken über die Vergeßlichkeit:

"Gestern habe ich's noch gewußt!"

2. Fassung 1)

Verehrte Leserschaft!

Sie kommen mit den vollen Einkaufstüten in die Tiefgarage und wissen nicht mehr, wo Ihr Auto steht? Oder:
Sie erinnern sich nicht an das Thema meiner letzten Kolumne? Nein? Sie haben´s nicht behalten? Ich dachte es mir. Aber machen Sie sich nichts draus – das ist ganz normal. Drei nahmhafte Wissenschaftler aus der Mongolischen Volksrepublik haben in einer mehrjährigen Studie nachgewiesen, daß von den derzeit ca. 7,3 Milliarden Menschen auf der Erde ganze 143 noch nie etwas vergessen haben. Alle übrigen sind schon mindestens einmal von der Vergeßlichkeit betroffen worden – jener zeitweiligen Arbeitsverweigerung unseres Gehirns, für die es ganz unterschiedliche Gründe gibt.
(Verglichen mit dem Gewohnheitsstreik der Lokführer ist eine gelegentliche Auszeit unseres Denkorgans gewiß das kleinere Übel. Zumal wenn man bedenkt, was so ein Hirn im Normalzustand zu leisten vermag. Denken Sie z.B. an die Erfindung des Kaugummis oder der Wegwerfwindel.)

Kurzum: Überall und jederzeit wird auf der Welt irgendwas vergessen – wobei es durchaus regionale Unterschiede gibt. Der Eskimo, um ein Beispiel zu nennen, wird eher selten seinen Autoschlüssel vermissen, dafür aber die Harpune made in Hongkong. Sie liegt irgendwo unter dem Ewigen Eis. Der Chinese hingegen findet seinen falschen Zopf nicht, dem Scheich ist die aktuellen Anzahl seiner Haremsdamen entfallen (wichtig für die Steuererklärung). Iwan in Moskau erinnert sich absolut nicht, ob er die Flasche Wodka gestern auf ex getrunken hat oder schon vorgestern. Der Indianer „Müder Krieger“ in seinem demokratischen US-Reservat muß die Friedenspfeife kalt rauchen, weil er vergaß, sich Tabak zu beschaffen. Das Pariser Ehepaar Dupont hat noch immer nicht die niedersächsische Autobahn-Tankstelle gefunden, an welcher es irrtümlich seine drei Kinder zurückließ. Und Bernd und Gabriele Holte-Spangenberg aus Stickenbüttel, zur Zeit auf Abenteuerkreuzfahrt im östlichen Mittelmeer, konnte auch am gesicherten Strand von Haifa nicht abschließend klären, ob der Gasherd im heimischen Bungalow abgestellt sei.

Was mich betrifft, so gehöre ich zur erdrückenden Mehrheit jener Menschen, die sich selbst für unentbehrlich halten und für unfehlbar. Allenfalls kleine Schadstellen muß ich vielleicht einräumen - wie hier und da eine gewisse Gedächtnisschwäche. Ein Beispiel gefällig?

An einem strahlenden Sommertag hebe ich Jutta, unser braves Hundemädchen, in ihren Korb und radle mit ihr die 1 ½ km zum Nelkenhof. Dort beginnt der teils schattige Lieblings-Feldweg, der für Hundenasen immer besonders interessante Gerüche bietet und eifrig beschnuppert werden muß. Zum Ende hin kommt Jutta angesichts der nahen Straße an die Leine. Wen treffen wir? Nachbarn Ferdinand mit seinem Terrier Pepi. In angeregtes Gespräch vertieft, wandeln wir gemeinsam nach Haus zurück. Die Idee, der Hitze wegen noch zusammen ein Flaschbier zu trinken, verwerfen wir wegen anderer Vorhaben. Alle vier sind am Ende froh, wieder in den häuslichen Schatten einzutauchen.

Kurz vor Feierabend bittet mich Lieselotte, meine unübertreffliche Gattin: „Corbinian – fährst du nochmal schnell zu Brutto? Wir haben kein Salatöl mehr.“ „Na klar. Ich nehme gleich das Fahrrad.“ Das Fahrrad??
Wehe mir: Das steht noch 1 ½ km entfernt am Nelkenhof und wartet geduldig auf seinen Einsatz. Was nun? … Jeder Gang macht schlank. Und wenn ich mich beeile, hat Brutto vielleicht noch geöffnet.

Sehen Sie – spätestens seit diesem Tage weiß ich nun, daß ich eventuell doch nicht ganz perfekt bin.
Und daß es mit meiner Unfehlbarkeit wohl doch nicht so weit her ist. Geahnt habe ich es schon lange...

Immer wieder verheddern wir uns im Gestrüpp der Vergeßlichkeit:

Arzttermin? – wann war das?/ Tante Berta gratuliert? – wieder nicht!/ Regenschirm wo? – noch im Kino/ Rasen gemäht? - kommt noch/ Blumen zum Hochzeitstag? - hol´ich jetzt schnell / in London: Name  unseres Hotels? Heißt es nicht... äh...?/ Theaterkarten? - mußt doch du haben...

Ich stehe im Keller und weiß nicht mehr, was ich holen wollte.
Die Gastgeberin begrüßt uns herzlich – der teure Strauß wartet zu Haus auf dem Flurtischchen.
Man hält vor 469 aufmerksamen Zuhörern einen geschliffenen Vortrag über das Thema „Kleider machen Leute“ - und hat noch die gelben Gartensocken an.

Genug. Geben Sie nach Belieben Ihre eigenen Erfahrungen hinzu. Ich warte gern...


Bis hierher haben wir die Vergeßlichkeit als Folge von Schusseligkeit besprochen. Es gibt aber noch weitere Erscheinungsformen.

Das Gegenteil von „Vergessen“ ist „Nicht vergessen können“. Sie wachen morgens nichtsahnend auf, und plötzlich erklingt im Gehirn, vor Ihrem geistigen Ohr „La Paloma“ oder „Alle meine Entchen“. Dieses Lied haben Sie nicht bestellt, aber sie werden es heute nicht mehr los. Machen Sie, was Sie wollen: Die Melodie wird Sie gnadenlos begleiten. Es funktioniert auch mit Namen: Früh um 7.oo Uhr fährt Ihnen in den Kopf: „Angelika Merkelansky“. Vorher nie gehört. Aber heute immer dabei! Oder: An den morgigen Zahnarzttermin wollen Sie noch nicht denken. Warum den Tag verderben? Ich garantiere Ihnen: Sie denken an nichts anderes. Sie können es nicht vergessen. Kennen Sie das?

Eine weitere Erscheinungsform ist das bewußte Vergessen:

Dem Kellner im Nobelrestaurant „Zur schönen Unke“ mißfällt Ihre mickrige Bestellung. Nach 25 geduldigen Warteminuten wagen Sie die schüchterne Frage: „Herr Ober! Haben Sie uns vergessen?“ Mit einem verächtlichen Blick antwortet er ungefähr in Ihre Richtung: „Ich habe jetzt Feierabend. Der Kollege kommt nachher gleich.“
Vergessen als Rache.

Auch dies: Eine mir einst sehr nahestehende Lehrerin mit stark ausgeprägtem Sozialtrieb leiht – gegen meine Einwände und ohne Quittung - einer ehemaligen Schülerin DM 3.000,--, damit diese sich wieder mal aus einer selbst verschuldeten Patsche helfen kann. „Vielen vielen Dank! Das werde ich dir nie vergessen!“ Sie hat´s doch getan. Das Geld kam nie zurück. Es war übrigens auch meines.
Vergessen als Betrug.

Wer sich für etwas nicht interessiert, der sortiert beizeiten aus, was er nicht gebrauchen kann. Reden Sie mit mir über Politik, Geschichte, Kunst, Architektur, Reisen – mein Gedächtnislager ist wohlgefüllt. Mathematische Formeln, Mendel´sche Gesetze oder die Wunder der Chemie aber habe ich längst entsorgt. In diesen Regalen finden sich nur noch ein paar Staubkörner.

Mein Nachbar nennt Ihnen bereitwilligst die Ergebnisse sämtlicher Heimspiele von Borussia Dortmund seit Erschaffung der Welt. Oder sind Sie Bayern-Fan? Die weiß er auch. Fragen Sie ihn dagegen nach der Dauer des 7-jährigen Krieges oder dem Verfasser von Goethes Faust, so wird er sich indigniert abwenden und Sie allenfalls an Google verweisen.

Jeder reinigt seine Gehirn-Festplatte von überflüssigen Dateien und schafft Platz für anderen Unsinn (junk) – zeitgemäß ausgedrückt.

Manchmal bleibt das Ergebnis gleichwohl eher mäßig. Zum Beispiel bewegt sich mein Namensgedächtnis allmählich gegen Null – allerdings nicht nur meines. Neulich erst wieder: Wir ehemaligen Kolleginnen und Kollegen speisen in der monatlichen Mittagsrunde gemächlich vor uns hin, als wir zufällig auf einen längst verstorbenen Mitstreiter zu sprechen kommen: „Der Handballfreak aus der Expedition. Ging doch immer angeln und war so ein ganz Lustiger. Wie hieß er noch gleich?“ Irgendwas mit „D“ jedenfalls. Und vorne hieß er Wolfgang. Das war klar. Wir sahen ihn vor uns. Meinen Sie, sein Familienname wäre uns eingefallen? Vorschläge genug – alle falsch. Später, längst zu Hause, macht es bei mir „klick“. Jochmann! Natürlich: Fritze Jochmann!! Ein Rundtelefonat informiert die anderen Grübler. Alle sind erleichtert. Es geht einem ja nicht aus dem Kopf. Fritze Jochmann! Warum nicht gleich. Und, wie gesagt, irgendwas mit „D“...

(Hören oder lesen Sie hierzu den Sketch „Wie heißt der Notenwart“, den Karl Valentin 1941 ersann. Das Stück ist bis heute aktuell!)

Neue Namen haben in meiner Gehirn-Ablage kaum noch eine Chance. Da muß schon etwas Besonderes passieren. Oder ich muß sie mir aufschreiben. Aber dann finde ich den Zettel nicht wieder. Hier gibt es beim Begrüßen nur eine einzige Rettung: „Hallo“. Obwohl ich das überhaupt nicht leiden kann, Frau Feuerring statt mit einem freundlichen „Guten Morgen“ nur mit „hallo“ abzufertigen - es ist halt ein Notbehelf im Fall verödeter Hirnregionen.

Überhaupt muß der Mensch sich etwas einfallen lassen, wenn ihm (wieder einmal) etwas nicht einfällt.


Anstelle des schlichten Bekenntnisses „Das habe ich vergessen“ benutzen wir gern beschönigende Umschreibungen (Euphemismen) wie z.B. Da bin ich im Moment überfragt/Ich komme gerade nicht drauf/ Gestern habe ich es noch gewußt/Es liegt mir auf der Zunge/ Also das ist mir noch nie passiert/ Das lege ich sonst i m m e r dort hin/Jaja, man wird alt und ähnliches. Bestimmt fällt Ihnen noch mehr ein.
 
Es ist menschlich, etwas zu vergessen. Manchmal ist es aber auch unmenschlich – wenn nämlich Dummheit, Gleichgültigkeit und Gefühlskälte ins Spiel kommen. Und da hört bei mir jedes Verständnis schlagartig auf.

Wer sich unbedingt ein Käfigtier halten muß, weil das vielleicht gerade „hip“ ist, der hat es ordentlich zu versorgen. Läßt so jemand seinen Goldhamster qualvoll verdursten, weil er vergißt, den Wassernapf zu füllen, dann gehört er selber für zwei Tage in eine Einzelzelle, und zwar ohne Trinken.

Wer zum wiederholten Male im Suff seine Partnerin verhaut, der muß unverzüglich in einen strengen Entzug eingewiesen werden – weil er sich offenbar nicht merken kann, daß bei ihm nach vier Bieren die Sicherungen durchknallen.

Wer sich als junge Mutter in einer Kneipe derart bekifft, daß er drei Tage lang nicht an zu Hause denkt, dem muß man die beiden kleinen Kinder (von wem eigentlich ...?) wegnehmen, damit die nicht wieder tagelang in ihrem eigenen Dreck verkommen.

In solchen Fallen überschreitet die Vergeßlichkeit die Grenze zum Unmenschentum und ist nicht mehr verhandelbar. Oder was meinen Sie?

Zum Ende hin wollen wir noch einen scheuen Blick in den Olymp unserer Wohlstandsgesellschaft werfen – in die Welt der Finanzen und der Politik.

Wer es geschafft hat, sich hier oben dauerhaft einzurichten, der muß sich um so veraltete Begriffe wie Moral, Anstand, Verantwortung oder Vertrauenswüdigkeit nicht mehr weiter kümmern. Das alles liegt irgendwo in seiner Schublade, unter Aktienpaketen und Geheimpapieren. Es wird nicht mehr gebraucht. Manager, Vorstände und leitende Angestellte haben ganz andere Sorgen. Es betrifft nicht alle; aber ab und zu gerät doch einer von ihnen mal in den Verdacht, eine - sagen wir - Unkorrektheit begangen zu haben. Vielleicht ist es ihm geschehen, daß er versehentlich ein paar Millionen Firmengelder in den Sand gesetzt hat, einige Kunden geschädigt oder ein paar Steuern hinterzogen. Sein Pech, daß ausgerechnet er erwischt wurde! Genug, man muß der Sache nachgehen. Also leitet man ein Verfahren ein, die Befragung beginnt – und der Beschuldigte läßt seine Staranwälte verkünden, daß er sich an absolut nichts erinnern könne. Total vergessen, Blackout, keine Ahnung, Erinnerungslücken: Das ganze Programm. Es tue ihm leid.

Er wird milde Richter finden. Ihr Mandant hat da einige Gedächtnislücken?? Das war zu erwarten. Aber trotzdem mußten wir leider nachhaken - wegen der Gesetze, Sie wissen ja … Naja, nichts für ungut. Alles im grünen Bereich. Vielleicht sieht man sich ja demnächst auf der Spenden-Party vom Doktor Bretzler? Irgendwas mit Erdbebenhilfe oder so? Und liebe Grüße an die werte Frau Gemahlin!

In der Politik heißt so etwas „Untersuchungsausschuß“. Obwohl hier schon mal die „brutalstmögliche Aufklärung“ angekündigt wird, kommt man nach langer Zeit und hohen Kosten endlich zu dem Ergebnis:
Niemand war´s, niemand erinnert sich, und schuld sind sowieso die anderen. Die Sitzung ist geschlossen.

Je größer das Vermögen, desto kleiner das Erinnerungsvermögen.

Gab es eigentlich schon mal so einen Ausschuß wegen vergessener Wahlversprechen? (eine PKW-Maut wird es mit mir nicht geben...)

Zum Schluß wollte ich Ihnen unbedingt noch die Sache mit dem Jagdhund erzählen. Leider weiß ich im Moment nicht mehr, worum es da geht. Sobald es mir einfällt, rufe ich Sie an. Wenn ich es nicht vergesse.

Bis bald mal wieder.

Corbinian Wagenseyl

(Lesen Sie hierzu auch "Ein Wort zuvor")

1)  Zwei Absätze des Originaltextes sind beanstandet und daraufhin gegen einen neuen Text ausgetauscht worden. C.W.